09.04.2024 | Rezension
Christine Globig (2021) Realitäten der Abhängigkeit. Fürsorge als ethisches Paradigma
Nomos, Baden-Baden, 320 Seiten, 64 €, ISBN 978-3-8487-8015-0
verfasst von:
Dr. Lea Chilian, Tabea Horvath
Erschienen in:
Ethik in der Medizin
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Auszug
Die Corona-Pandemie hat in besonderer Weise die Realitäten der Abhängigkeit sichtbar gemacht, von denen Christine Globig, in ihrer aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangenen Monografie, als anthropologischer Grundsituation ausgeht. Zwar sind nicht alle Menschen zeitgleich und in gleichem Umfang auf Andere angewiesen, doch steht sicherlich der Beginn des Lebens als auch das Ende des Lebens ganz im Zeichen der Abhängigkeit durch Andere, wie Globig im Anschluss an Hans Jonas ausführt. Globig will Fürsorge als diejenige Grundform menschlichen Handelns skizzieren, die den Realitäten der Abhängigkeit entsprechend verantwortungsvoll ausgerichtet ist. Ihre Arbeit stellt damit ein Desiderat in der evangelischen Ethik dar, die Fürsorge bislang (bis auf wenige Ausnahmen) eher in abgrenzender und kritischer Perspektive diskutierte, wie Globig u. a. an den Entwürfen von Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter zeigt. Daran anschließend führt Globig aktuelle Diskussionen zum Care-Begriff interdisziplinär zusammen (Soziologie/Sozialpolitik, Ökonomie, Erziehungswissenschaft, Medizin/Pflegewissenschaft) und diagnostiziert ein Fürsorge-Defizit in Gesellschaft und wissenschaftlichem Diskurs. Hier erfolgen wichtige begriffliche Unter- und Entscheidungen (Care/Fürsorge, Fürsorge/Fürsorgearbeit, Haus‑/Familien‑/Reproduktions‑/Fürsorgearbeit). Mit Fürsorge sind für Globig Tätigkeiten, die in Abhängigkeitsverhältnissen zugunsten des Wohlergehens anderer ausgeführt werden, angesprochen, die eine genaue Wahrnehmung der Situation, Mitgefühl, und oft auch einen Bezug zum körperlichen Wohlergehen anderer sowie Handeln in Verantwortungsübernahme voraussetzen (S. 79 f., in Abgrenzung zur Fürsorgearbeit): Bspw. umfasst ein Zuhause zu schaffen mehr als Dach, Bett und regelmäßige Mahlzeiten (S. 84). Hervorzuheben ist Globigs detaillierte und kritische Erarbeitung der Rezeption von Carol Gilligans wegweisender Care-Forschung bei Lawrence Kohlberg und Jürgen Habermas. Globig arbeitet gründlich und argumentativ überzeugend heraus, dass in der Aufnahme und Verarbeitung von Gilligans Ergebnissen durch Kohlberg, Habermas, später Nel Noddings und Joan Tronto aus Gilligans offenen Anfragen ein alternatives System der Care-Ethik entwickelt wurde. Fürsorge wurde dann jeweils im Gegenüber und im Widerspruch zu Gerechtigkeit konstruiert und höchstens als Ergänzung und Erweiterung zum vorherrschenden Gerechtigkeitsparadigma aufgefasst, was sich allerdings nicht systematisch zwingend aus Gilligans Forschung ergibt. …