Theoretische Perspektive
Genau diejenigen Dimensionen des Menschseins, die für eine Ethik des Genusses als grundlegend geschildert wurden und auf die Lévinas, Pelluchon und Praetorius verweisen, werden im Alter – und dort besonders in Situationen der Pflege – augenscheinlicher. Das Eingebundensein in Beziehungen, auch die Abhängigkeit davon und selbst das Genährtwerden nehmen in dieser Situation zu. Diese Veränderung steht in der Ambivalenz, als Verlust erlebt werden zu können, aber auch Raum für die gesteigerte Bedeutsamkeit des Genusses zu eröffnen.
Dass die
Relevanz von Genuss für die Situation, als alter Mensch gepflegt zu werden, steigt, lässt sich etwa mit den Wertekategorien verdeutlichen, die Viktor E. Frankl im Rahmen seiner Psychotherapie-Konzeption entwickelt hat (Frankl
2015, S. 33 f.). Laut seiner „logotherapeutischen“ Konzeption finden Menschen auf unterschiedlichen Wegen Sinn in ihrem Leben. Der eine Weg führt darüber, etwas zu tun oder zu schaffen. Hier geht es um schöpferische Werte. Ein zweiter Weg führt darüber, etwas zu erleben oder jemanden zu lieben. Hier geht es um Erlebniswerte. Ein dritter Weg führt darüber, gerade wenn die anderen Wege versperrt sind und die Situation hoffnungslos ist, eine Haltung einzunehmen, mit der jemand seinem Schicksal begegnen kann. Hier geht es um Einstellungswerte. Betrachtet man die Situation von alten Menschen in der Pflege, ist klar, dass Arbeitsfähigkeit und schöpferische Werte abnehmen, so sehr sie im Rahmen des Möglichen aufrechterhalten und gefördert werden sollten. Mit Blick auf eine Ethik des Genusses sollte das aber nicht bedeuten, nur noch den dritten Weg gehen zu können, und diese Veränderung hinzunehmen, das Leiden zu akzeptieren und damit in eine Haltung der Akzeptanz oder auch des heroischen Durchhaltens zu kommen. Vielmehr gewinnt der zweite Weg an Gewicht, der über Genuss und Erlebnisse führt. Das kann sächlich oder personal geschehen, also im Genuss von „etwas“ oder in Beziehung zu jemandem.
Als Konzept, das eine Position dazu einnimmt, wofür es sich zu leben lohnt, was Ziele einer gelungenen Lebensführung sein können und was zu einem guten Leben beiträgt, ist die Konzeption Frankls nicht nur eine therapeutische, sondern auch eine ethische, ja geradezu normative Konzeption. Weite Spiritualitätsbegriffe würden die drei genannten Wege der Sinnfindung auch als spirituell bezeichnen können. Umgreift Spiritualität bereits „Suche nach Sinn und Fähigkeit zur Selbsttranszendenz (Hingabe an Werte und Personen)“ (Grom
2011, S. 15), dann ist Frankls Konzept ein spirituelles Konzept. Genuss hätte insofern nicht nur ethische, sondern auch spirituelle Relevanz. Umgekehrt ist es u. E. aber wichtig, spezifisch von Genuss zu sprechen, weil Genuss auch möglich ist, ohne dass eine Sinnstiftung oder eine „transzendierende Selbstreflexion“ (Körtner
2011, S. 29) erfolgt.
Zur Erfahrung gehört allerdings auch, dass zugleich Genussmöglichkeiten und -fähigkeiten im hohen Alter schwinden. Damit es zu keiner Romantisierung des Genährtwerdens und Angewiesenseins kommt, wäre das Gesagte damit auszubalancieren. Am Beispiel des Genusses durch Essen: „Während Neugeborene ca. 10.000 Geschmacksknospen besitzen, wird diese Zahl bei älteren Menschen auf etwa ein Drittel reduziert“ (Vilgis et al.
2015, S. V). Der kulinarische Genuss ist damit eingeschränkt. Zugleich bestehen aber Möglichkeiten, den Genuss auch unter eingeschränkten Bedingungen zu steigern, wenn dies als Ziel der Pflege ernst genommen wird. So können z. B. durch lebensmitteltechnische Verfahren Alternativen zu „ewig pürierter und abscheulich eintönig schmeckender Astronautenkost“ (Vilgis et al.
2015, S. VII) gefunden werden. Vilgis et al. (
2015) bieten dazu viele kreative Ideen.
Doch nicht nur die Pflegenden werden in Bezug auf die beschriebene Situation bedacht – häufig wird die Aufgabe für die Gepflegten abgeleitet, „mit Einschränkungen und Verlusten, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, zu leben, seine Abhängigkeit bewusst anzunehmen und notwendige Hilfen zu nutzen […] Insbesondere im Vierten Lebensalter wird die Fähigkeit des Menschen, die Fragilität seines Lebens und die Hilfe anderer anzunehmen, zu einer bedeutenden Entwicklungsaufgabe“ (Mäule
2009, S. 229). Daran anschließend lässt sich die Schwierigkeit dieser Aufgabe herausarbeiten – z. B., weil Abhängigkeit für viele Menschen der Gegenwart eine „Schreckensvorstellung“ (Mäule
2009, S. 229) ist – oder ihr Gelingen beschreiben – z. B. weil Vertrauen in Personen und Institutionen besteht (Mäule
2009, S. 230).
Im Unterschied zur positiven Rahmung von Eingebundensein und Genährtwerden bei Pelluchon ist die Verlust-Perspektive in der Literatur und auch oft in verbreiteten Vorstellungen von Alter und Pflege sehr präsent, so auch in dieser Passage. Dass ältere und hochaltrige Menschen in Pflegesituationen mit ihrem zunehmenden Angewiesensein ringen und dass es wichtig ist, ethisch darüber zu reflektieren, was ihnen dabei hilft und was nicht, ist unbenommen. Interessant unter der Perspektive einer Ethik des Genusses, die in diesem Beitrag zugrunde gelegt wird, ist aber ein vorgelagerter Punkt: Der Umgang mit diesem Angewiesensein wird als Aufgabe gefasst. Diese aus der Entwicklungspsychologie stammende Auffassung (etwa bei Erik H. Erikson, für die Pflege z. B. rezipiert bei Kommerell
2021, S. 34) lässt sich durch die Vorstellung von Bewältigungsaufgaben mit einer Ethik der Pflicht korrelieren. Eine Ethik des Genusses allerdings kann von der Erfüllung von Aufgaben entlasten. Als Aufgabe des Alters wird häufig die Integration des bisherigen Lebens unter einem sinnvollen Ganzen gesehen. Demgegenüber üben manche theologische Stimmen Kritik und betonen wider eine „Tyrannei gelingenden Lebens“ (Schneider-Flume
2008) die bleibende Fragmentarizität des menschlichen Lebens (Coors
2020, S. 325) – Lebensgeschichten bleiben unabgeschlossen und nicht in allem können Sinngehalte gefunden werden.
4 Es gelte vielmehr, von der ethisch vorgegebenen Aufgabe, mein Leben im Alter bewerten zu müssen, zu entlasten (Coors
2020, S. 325). Genau diese Entlastung kann den Raum dafür aufspannen, schlicht genießen zu dürfen. Auch umgekehrt ist es möglich, dass Momente des Genusses dazu führen können, die Perspektive für die Entlastung von Aufgaben zu eröffnen.
Auch gegenüber anderen Narrativen und ethischen Rahmungen des Alters (vgl. dazu Coors
2020, S. 318–324) hat eine Rahmung durch eine Ethik des Genusses Vorteile. Das Alter kann – oft von medizinischer Seite – als etwas gesehen werden, das zum Tod hin strukturiert ist und deswegen bekämpft werden muss. Oder aber es wird als „Abbau“ nach der Blüte des Lebens betrauert. Im Unterschied dazu lassen sich die veränderte Einbettung in Beziehungen, die Angewiesenheit auf andere und die nun augenfälligeren Erfahrungen des Genährtwerdens als Verlagerung in Dimensionen des Menschseins verstehen, die in der Mitte des Lebens nur zeitweise zurückgetreten zu sein scheinen. Die anthropologische Tiefenverwurzelung dieser Dimensionen wird damit herausgestellt und so das Recht dieser Dimensionen im Lebensverlauf hervorgehoben. Dies könnte nun als die Devise missverstanden werden: „Zurück ins Säuglingsalter!“ Denn das Bild des Genährtwerdens wird in den benannten Entwürfen in Bezug auf die erste Lebensphase entwickelt. Wenn dies nun für eine Ethik des Genusses in der Pflege älterer und hochaltriger Menschen fruchtbar gemacht werden soll, bringt das die Gefahr mit sich, entmündigend von altgewordenen Menschen zu sprechen und auch entsprechend mit ihnen umzugehen. Das setzt allerdings das Missverständnis voraus, dass Genährtwerden, Erfahrung von Fülle und Einbettung in Beziehung nur oder vor allem das Säuglingsalter beträfen. Demgegenüber liegt der Impetus der aufgeführten philosophischen und theologischen Ansätze darauf, diese Dimensionen für jedes Lebensalter als grundlegend zu erachten, wenn sie auch in unterschiedlicher Weise in Erscheinung treten. Die menschliche Grunderfahrung des Geborenseins (Arendt
2020), die grundlegend für Praetorius ist, zeigt sich als relevant für das gesamte menschliche Leben.
Praktische und empirische Perspektive
Ausgehend von grundlegenden ethischen Überlegungen und deren Bezugnahme auf die Situation der Pflege gibt es also Grund zu der Annahme, dass die Berücksichtigung eines Ansatzes einer Ethik des Genusses in der Pflege eine hilfreiche ergänzende Perspektive zu bestehenden ethischen Überlegungen bietet. Aber auch in vielen Praktiken der Pflege sowie in entsprechender Fachliteratur und in Empfehlungen zeigt sich bereits, dass das Thema des Genusses für die Pflege von hoher Relevanz ist. So werden beispielsweise in den Expertenstandards der Pflege zur Ernährung und in kommentierenden Anleitungen dazu nicht nur biomedizinisch relevante Aspekte benannt, die etwa dazu verhelfen, dass Gepflegte nicht verhungern und genügend Nährstoffe zu sich nehmen. Auch Fragen des Genusses, der Tischkultur, Geschmacksvorlieben und die Umgebung spielen eine Rolle (vgl. bspw. Schmidt
2020, S. 147–170). Dem Genuss wird dabei in der Literatur nicht unbedingt ein Wert an sich zugestanden. Die Beachtung der Tischkultur wird möglicherweise vorrangig aufgeführt, weil diese dem Zweck der Gesunderhaltung der Gepflegten dient.
Dass das Thema Genuss für Pflegekräfte und Gepflegte relevant ist, ist auch empirisch aufweisbar; wenn auch nicht immer unter dem Schlagwort „Genuss“. So finden sich etwa Untersuchungen zur Frage nach der Lebensqualität in Pflegesituationen. Unter dem Stichwort Lebensqualität werden unter anderem Aspekte betrachtet, die im vorliegenden Beitrag unter dem Konzept von „Genuss“ betrachtet werden (Kada et al.
2018); ebenso gibt es Untersuchungen zu Fragen nach Lebensqualität, Gesundheit und Glück im Alter (z. B. Fliege und Filipp
2000; hier geht es allerdings nicht um einen Pflege-Kontext). Weitere ergänzende empirische Daten, die explizit mit dem Genuss-Begriff arbeiten, wären perspektivisch hilfreich; insbesondere, weil der Begriff „Lebensqualität“ stark mit den Aspekten der persönlichen „Kontrollmöglichkeit“ und „Aktivität“ verknüpft wird (Kada et al.
2018). Zu fragen wäre, in welchen Momenten im Alltag Gepflegte Genusserlebnisse haben und in welchen Momenten Pflegekräfte wahrnehmen, dass Gepflegte etwas genießen. Dabei wäre jeweils auch mit zu reflektieren, wo Grenzen des Genusses liegen, etwa, wenn sich mögliche negative Folgen des Genusses für Gepflegte, Pflegende oder Angehörige ergeben. Eine solche Untersuchung könnten die folgenden Vorschläge und Thesen zur ersten Skizzierung einer Genussethik in der Pflege ergänzen und unterfüttern. Wo dazu bereits Material vorliegt, soll die Verbindung zur Empirie und aktuellen Pflege-Literatur in den folgenden Thesen auch exemplarisch aufgezeigt werden.