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Karzinoidsyndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Karzinoidsyndrom.
Synonyme
Biörk-Thorson-Sy, Cassidy-Scholte-Sy, Hedinger-Sy, Steiner-Voerner-Sy, Steiner-Lusbaugh-Sy, Enterodermatokardiopathie, Flush-Sy, Angiomatosis miliaris, Karzinoidose
Oberbegriffe
(Entero)chromaffine Tumoren, paraneoplastische Ss, Inselzellhyperplasie-Ss, Hypoglykämie-Ss.
Organe/Organsysteme
Dünndarm, Leber, Herz-Kreislauf-System, Haut, Lungen (10–22 %), Atemwege, Gastrointestinaltrakt (75 %, allein im Appendix 43 %, im distalen Ileum 15 %), APUD-System („amine precursor uptake and decarboxylation“).
Inzidenz
1:14.000, geringfügige Gynäkotropie. Zweigipfliges Manifestationsalter zwischen 25–45 sowie über 60 Jahren. Katecholamin sezernierende Tumore sind mit einer Inzidenz von 1:4.000.000 sehr selten.
Ätiologie
Vorwiegend vom Dünndarm (Ileum, auch Appendix) ausgehende enterochromaffine Tumoren, die vorwiegend in die Leber metastasieren und häufig kreislaufwirksame Gewebshormone (Amine und/oder Peptide) sezernieren. Die häufigste unter den mehr als 20 nachgewiesenen Substanzen ist Serotonin = 5-Hydroxytryptamin (5-HT).
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Glomustumoren, Apudome, Borchardt-Sy, Crohn-Sy, Osler-Sy (I), paroxysmales Hypothermie-Sy, Löffler-Sy (II), Mastozytose-Sy (Urticaria pigmentosa, M. Nettleship), Page-Sy, Rapunzel-Sy, Libman-Sacks-Sy, Sprue-Ss, diverse Intoxikationen (Quecksilber, Arsen, Morphin, Nikotin), Pellagra, Zollinger-Ellison-Sy, Phäochromozytom.

Symptome

Bei Belastungssituationen anfallsweise auftretende Hautrötung (Flush) mit Ausbreitung vom Gesicht nach kaudal, verbunden mit subjektivem Hitzegefühl (94 %), Teleangiektasien am Oberkörper, anfallsartige wässrige Diarrhö, gastrointestinale Hypermotilität, kolikartige Bauchschmerzen, Blutdruckschwankungen (v. a. Hypotonie), asthmoide Anfälle, Endokardfibrose, evtl. mit Klappenbeteiligung (Pulmonalstenose, Mitral-, Aortenklappen- und Trikuspidalinsuffizienz), Arrhythmie, Hepatomegalie, Lebermetastasen.
Pellagraähnliche Symptome entstehen v. a. bei serotoninproduzierendem Karzinoid, da bis zu 60 % der verfügbaren Aminosäure Tryptophan dafür abgezweigt werden (anstatt normal 1 %).
Zusammenfassung der wichtigsten Symptome des Karzinoid-Sy nach ihrer Häufigkeit
Symptom
Häufigkeit (%)
Anfallsweise Hautrötung (Flush)
90
Diarrhö
70
Kolikartige Bauchschmerzen
40
Rechtsherzbefunde
30
Bronchospastik
15
Linksherzbefunde
10
Pellagra
 5
Labor
5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) im Harn (erhöhte Werte sind oft mit kardialer Beteiligung assoziiert), rezidivierende Hypo- und Hyperglykämien (Glykolabilität). Insbesondere bei Darmsymptomatik treten Dehydratation, Hyponatriämie, Hypokaliämie und Hypochlorämie auf.
Vergesellschaftet mit
Mechanischer Ileus (häufige Operationsursache), Dermatosen, allergische Diathese, Atopie, Teleangiektasien. Leberfunktionsstörungen (Hypoproteinämie, Hyperaldosteronismus) treten erst bei sehr fortgeschrittener Metastasierung auf. Ungefähr die Hälfte der Karzinoidpatienten entwickelt eine kardiale Beteiligung, die i. d. R. eine schlechte Langzeitprognose hat.
Therapie
Operativ: Chirurgische Tumorreduktion, Chemoembolisation von Lebermetastasen, Embolisation der A. hepatica, Lebertransplantation.
Medikamentös: Symptomatische Behandlung mit dem Somatostatin-Analogon Octreotid bzw. Lanreotid, Kortikoide, Chemotherapie, H1- und H2-Blocker, Setrone, Aprotinin

Anästhesierelevanz

Unter den nachgewiesenen Gewebshormonen finden sich außer Serotonin noch Histamin, Gastrin, Sekretin, Prostaglandine, Glukagon, Insulin, Parathormon, Kalzitonin, Vasopressin, Motilin, β-Endorphin, Kallikrein, Bradykinine, Tachykinine (Neuropeptid K, Neurotensin, Neurokinin A, Substanz P und das vasoaktive intestinale Peptid = VIP), antidiuretisches Hormon = ADH, Kortikotropin u. a. m.
Die Vielfalt der möglichen sezernierten Substanzen erklärt die Verschiedenheit (und die Gegensätzlichkeit) der auftretenden Befunde. Allerdings kommt es zu systemisch wirksamen Effekten erst bei fortgeschrittener Metastasierung des Karzinoids, da kleinere Gewebshormonmengen aus dem Gastrointestinalbereich durch die vorgeschaltete Leberpassage einer wirksamen Clearance unterworfen werden (außer bei bestehender Leberinsuffizienz). Daher sind bei lediglich 5–7 % der Fälle systemische Symptome zu beobachten. Vermutlich können Gewebshormone zumindest teilweise auch in der Lunge inaktiviert werden, was daran ersichtlich ist, dass das rechte Herz weit häufiger betroffen ist als das linke. Die kardiale Beteiligung äußert sich vorwiegend als Trikuspidalinsuffizienz, Pulmonalklappeninsuffizienz bzw.-stenose, Endokardfibrose, während das linke Herz nur in 10 % der Fälle einer kardialen Beteiligung betroffen ist.
Bei Serotonin sezernierendem Karzinoid kann es unter Umständen zu verzögertem Aufwachen nach einer Narkose kommen. Bei Histamin sezernierendem Karzinoid ist der Flush im Vordergrund, hinzukommen Kreislaufinstabilität und Arrhythmieneigung. Kallikrein bzw. Bradykinine verursachen vorwiegend hypotensive Kreislaufzustände. Tachykinine verursachen ebenfalls Flush und kardiale Effekte.
In einem späteren Stadium und bei erheblichem Größenwachstum können Karzinoidtumoren auch mechanische Befunde wie Ileus oder Blutungen verursachen.
Es ist sinnvoll, Rezeptorenblocker therapeutisch bzw. prophylaktisch einzusetzen. Eine gezielte Blockade ist möglich, wenn das sezernierte Gewebshormon bekannt ist. Das Somatostatinanalogon Octreotid (50–500 mg s.c., 8-stündlich nach Wirkung) ist das Medikament der ersten Wahl. Es bewirkt eine Hemmung der unkontrollierten Hormonfreisetzung aus der Tumorzelle. Alternativ kommen folgende Rezeptorenblocker zum Einsatz: Diphenhydramin (25–50 mg i.v.) zur H1-Rezeptorenblockade; Ranitidin (150 mg p.o. oder i.v.) zur H2-Rezeptorenblockade; Ondansetron (8 mg i.v.) zur 5-HT3-Rezeptorenblockade; ferner Aprotinin (200.000 Einheiten i.v.) und Somatostatin (0,1 μg/kg/min) als kontinuierliche Infusion.
Weitere, vereinzelt erwähnte Medikamente sind Kortikosteroide, Methysergid und Ketanserin.
Spezielle präoperative Abklärung
Beurteilung der Darmmotilität, Thoraxröntgenaufnahme, Abdomensonografie, Echokardiografie, Elektrolyte und Osmolarität im Serum, Blutbild, Hormonscreening. Wichtig ist die Unterscheidung von Tumoren im portalvenösen Abstromgebiet (geringeres Risiko einer „Karzinoid-Krise“) gegenüber einer extraportalen Lokalisation (hohes Risiko).
Wichtiges Monitoring
Invasive arterielle Blutdruckmessung, zentralvenöser Druck, Relaxometrie (bei Leberinsuffizienz Cholinesterasemangel), Blutzucker- und Elektrolytkontrollen (v. a. Kalium, Natrium und Kalzium). Bei kardialer Beteiligung und zu erwartenden großen Volumenverschiebungen intraoperative transösophageale Echokardiografie oder Pulmonalarterienkatheter einsetzen.
Vorgehen
Um eine katecholamin- bzw. stressbedingte massive Freisetzung von Mediatoren und eine daraus resultierende „Karzinoid-Krise“ zu vermeiden, sollte möglichst schonend verfahren werden. Chirurgische Manipulation am Tumor kann ebenfalls eine erhebliche Mediatorenfreisetzung bewirken. Eine Karzinoid-Krise kann eine kardiopulmonale Dekompensation bewirken.
Eine anxiolytische Prämedikation erscheint sinnvoll. Die Octreotid- oder Somatostatintherapie ist unbedingt perioperativ fortzusetzen bzw. – wenn indiziert – bis spätestens 24 h vor Operationsbeginn einzuleiten, da sie die effektivste Therapie einer durch vasoaktive Substanzen hervorgerufenen Hypotension und Bronchokonstriktion ist.
Es wurden nahezu alle üblichen Anästhesieverfahren erfolgreich angewendet. Bei im Vordergrund stehender obstruktiver Symptomatik der Atemwege erscheint eine Regionalanästhesie sinnvoll, aber auch eine Allgemeinanästhesie mit volatilen Anästhetika, Propofol, Opioiden (außer Morphin und Pethidin) und Benzodiazepinen kommt in Frage. Bei Katecholamin sezernierenden Tumoren kann eine prolongierte Propofolmedikation zu einem Propofol-Infusionssyndrom führen, da Myozyten unter Dauerexposition zu Katecholaminen empfindlicher zu sein scheinen. Daher sollte eher auf eine balancierte Anästhesie ausgewichen werden. Geeignete Muskelrelaxanzien sind Vecuronium, Rocuronium, Pancuronium und Cisatracurium. Kombinationen von Regionalanästhesien mit Allgemeinanästhesie bzw. die Verwendung von Remifentanil bei Allgemeinanästhesien wurden öfter als vorteilhaft angegeben.
Octreotid wird in 20–100 μg Boli zusätzlich zur Basisinfusion perioperativ eingesetzt, um Bronchospastik und Kreislaufinstabilitäten effektiv zu therapieren. Beachte: Octreotid kann nach Bolusinjektionen zu Bradyarrhythmien und Blockbildern führen. Sympathomimetika und Histaminliberatoren können unter Umständen eine Mediatorenfreisetzung aggravieren. Blutdrucksteigerungen können mit Esmolol oder Phentolamin behandelt werden. Blutdruckabfälle reagieren meist auf α-adrenerge Stimulation z. B. mit Phenylephrin in kleinen i.v.-Bolusdosen, wobei ein adäquates Flüssigkeits- und Volumenmanagement eine essenzielle Voraussetzung darstellt. Katecholamine können Kallikrein aktivieren und sind daher weniger geeignet. Man vermeide Hyperkapnie, Hypothermie und Hypotension. Engmaschige Kontrolle des Blutzuckers.
Die Infusionstherapie richtet sich nach dem aktuellen Hydratationszustand, Osmolarität, Elektrolyt- und Eiweißstatus. Meist liegt eine Dehydratation vor. Histaminfreisetzende Medikamente sollten generell gemieden werden (s. Kapitel Mastozytose).
Postoperativ ist eine suffiziente Schmerztherapie essenziell, um eine stressbedingte Mediatorenfreisetzung zu vermeiden.
Cave
Histaminliberatoren (Thiopental, Succinylcholin, Atracurium, Mivacurium, Morphin, Pethidin), Hyperkapnie, Katecholamine. Kardiopulmonale Dekompensation im Rahmen einer akuten Karzinoid-Krise.
Weiterführende Literatur
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