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Pädiatrie
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Publiziert am: 08.02.2019

Autistische Störungen

Verfasst von: Michele Noterdaeme
Autistische Störungen sind in der Kategorie der tief greifenden Entwicklungsstörungen der ICD-10 gelistet. Diese Kategorie umfasst verschiedene Subgruppen. Entsprechend dem aktuellen Forschungsstand werden der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), das Asperger-Syndrom (F84.5), die nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung (F84.9) und sonstige tief greifende Entwicklungsstörungen (F84.8) unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengefasst und somit von den anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie dem Rett-Syndrom (F84.2), der desintegrativen Störung (F84.3) oder der überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) abgegrenzt. In der DSM 5 wird eine neue Metakategorie „mentale und neuronale Entwicklungsstörungen“ definiert, in der Autismus-Spektrum-Störungen zusammen mit der Intelligenzminderung, der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, den Sprachentwicklungsstörungen und den motorischen Störungen klassifiziert werden.
Klassifikation und Erscheinungsbild
Autistische Störungen sind in der Kategorie der tief greifenden Entwicklungsstörungen der ICD-10 gelistet. Diese Kategorie umfasst verschiedene Subgruppen. Entsprechend dem aktuellen Forschungsstand werden der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), das Asperger-Syndrom (F84.5), die nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung (F84.9) und sonstige tief greifende Entwicklungsstörungen (F84.8) unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengefasst und somit von den anderen tief greifenden Entwicklungsstörungen wie dem Rett-Syndrom (F84.2), der desintegrativen Störung (F84.3) oder der überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) abgegrenzt.
Die Phänotypie der Autismus-Spektrum-Störungen ist extrem heterogen. Kernsymptome sind Defizite in der sozialen Kommunikation und das Vorhandensein von eingeschränkten, stereotypen Verhaltensmustern und Interessen. Während in der ICD-10 die qualitativen Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation als zwei separate Merkmalsbereiche definiert werden, sind in der DMS 5 beide Bereiche zusammengefasst in der Rubrik soziale Kommunikation. In der DSM 5 wird eine neue Metakategorie „mentale und neuronale Entwicklungsstörungen“ definiert, in der Autismus-Spektrum-Störungen zusammen mit der Intelligenzminderung, der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, den Sprachentwicklungsstörungen und den motorischen Störungen klassifiziert werden. Die verschiedenen Symptome sind in folgender Übersicht dargestellt.
DSM-5-Kriterien für die Autismus-Spektrum-Störungen
1.
A-Kriterium: anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation über verschiedene Kontexte hinweg. Diese manifestieren sich in folgenden aktuellen oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen:
  • Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit
  • Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten
  • Defizite in der Aufnahme und Aufrechterhaltung und in dem Verständnis von Beziehungen
 
2.
B-Kriterium: Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens 2 der folgenden aktuellen oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmale manifestieren:
  • Stereotype oder motorische Bewegungsabläufe, stereotype oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder von Sprache
  • Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern verbalen und nonverbalen Verhaltens
  • Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind
  • Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen
 
Das Zeitkriterium beschreibt, dass die Symptome bereits in der frühen Kindheit vorliegen müssen, ohne dass ein spezifisches Alter festgelegt wird. In der DSM 5 werden keine Subkategorien gebildet.
Frühkindlicher Autismus (F84.0)
In der ICD-10 werden verschiedene Subkategorien gebildet. Kinder mit einem frühkindlichen Autismus werden in der Regel in den ersten Lebensjahren auffällig und auch diagnostiziert. Oft bestehen erhebliche Entwicklungsdefizite im Bereich der Sprache und der allgemeinen kognitiven Entwicklung. Einige Kinder sind sehr zurückgezogen, verwenden kaum aktive Sprache und zeigen motorische Stereotypien. Andere Kinder suchen auf eine eigenartige, distanzlose Art aktiv Kontakt, sind im verbalen Ausdruck häufig pedantisch, floskelhaft und wenig kommunikativ, sie zeigen zwanghafte Verhaltensweisen oder spezielle Sonderinteressen.
Asperger-Syndrom (F84.5)
Das Asperger-Syndrom ist, wie der frühkindliche Autismus, gekennzeichnet durch eine Störung der sozialen Interaktion, durch umschriebene Interessen oder ritualisierte, zwanghafte Verhaltensweisen. Als obligates Kriterium wird eine normale frühe Sprachentwicklung verlangt. Darüber hinaus wird festgelegt, dass das adaptive Verhalten und die Neugierde an der Umgebung in den ersten 3 Jahren einer normalen Entwicklung entsprechen müssen.
Atypischer Autismus (F84.1)
Die diagnostischen Kriterien des atypischen Autismus entsprechen den Kriterien des Autismus (F84.), jedoch ist das Manifestationsalter verspätet (nach dem 3. Lebensjahr) und/oder einer der 3 Kernbereiche bleibt unauffällig. Die Diagnose einer nicht näher bezeichneten tief greifenden Entwicklungsstörung ist ähnlich, aber noch vager definiert.
Nachdem die Evidenz bis jetzt nicht für eine valide nosologische Abgrenzung der verschiedenen Subgruppen ausreicht, erscheint die in der DMS-V vorgeschlagene Klassifikation in einer zusammenfassenden Kategorie Autismus-Spektrum-Störungen sinnvoll.
Epidemiologie
Der frühkindliche Autismus galt lange als eine seltene Erkrankung mit einer Häufigkeit von 0,04 %. In neueren epidemiologischen Untersuchungen lässt sich ein deutlicher Anstieg der Prävalenzraten für Störungen aus dem autistischen Spektrum feststellen. Die stetige Zunahme der Prävalenz begann bereits vor der Jahrtausendwende. Die Studien von 1966–1973 ergaben eine Prävalenz von 0,05 %, während für Studien aus den Jahren 1990–1997 eine höhere Rate von 0,1 % errechnet wurde. In epidemiologischen Untersuchungen seit 2000 ist die Prävalenz für das autistische Spektrum deutlich angestiegen. Zusammenfassend ergeben diese neuen Studien ein Prävalenzrate für frühkindlichen Autismus von ca. 0,3 %, für die anderen ASS insgesamt 0,9 %. Der Anstieg lässt sich zum Teil durch eine Erweiterung der diagnostischen Kriterien und ein größeres Bewusstsein für die ASS erklären.
Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen
Neben der Kernsymptomatik zeigen Personen mit ASS häufig Begleitsymptome. Zu den häufigsten Komorbiditäten gehören weitere Entwicklungsstörungen (z. B. motorische Störungen, Sprachstörungen, Intelligenzminderungen), neurologische (z. B. Epilepsien, Seh- oder Hörstörungen) und genetische/chromosomale Erkrankungen und das gleichzeitige Vorliegen von psychiatrischen Symptomen, die nicht zur Kernproblematik der autistischen Störungen gehören (z. B. hyperkinetische Symptome, Angststörungen, depressive Verstimmungen).
Diagnose
Die Diagnose ASS beruht auf dem Vorhandensein einer bestimmten Verhaltenskonstellation. Es gibt keinen „Labortest“ für Autismus-Spektrum-Störungen. In der Regel werden primär Fragebögen als Screeninginstrumente zum Generieren von Verdachtsdiagnosen eingesetzt. So kann in kurzer Zeit ohne großen Zeitaufwand auf standardisierte Weise viel Information über ein Kind gewonnen werden. Es besteht aber die Gefahr, dass Fragen seitens der Eltern falsch oder gar nicht verstanden werden. Ebenso können bestimmte Probleme aggraviert oder dissimuliert werden. Einige relevante Fragebögen sind in Tab. 1 zusammengefasst.
Tab. 1
Screeninginstrumente für Autismus-Spektrum-Störungen
Fragebogen
Alter
Autoren
Checklist for Autism in Toddlers (CHAT)
24 Monate
Robins et al. 2001
Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK)
Ab 36 Monaten
Deutsche Fassung Bölte et al. 2006
Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität
4.–18. Lebensjahr
Bölte et al. 2008
Die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
Ab 72 Monaten
Kamp-Becker et al. 2005
Als Goldstandards in der Diagnostik von ASS gelten das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und Autism Diagnostic Oberservation Schedule-Generic (ADOS-G). Das ADI-R ist ein standardisiertes, untersuchergeleitetes Interview, basierend auf Angaben der Eltern. Das ADOS-G ist ein Spielinterview mit dem Kind, in dem Situationen geschaffen werden, die normalerweise soziale Interaktion hervorrufen. Das Interview besteht aus 4 Modulen, die je nach kognitiver und sprachlicher Entwicklung der Kinder eingesetzt werden können. ADOS-G und ADI-R ergeben in der Hand eines geschulten und erfahrenen Untersuchers, der über Erfahrung mit differenzialdiagnostisch relevanten Störungen bei Kleinkindern verfügt, eine recht sichere Diagnose.
Ätiologie
ASS sind ein klinisch und ätiologisch heterogenes Krankheitsbild. Die Genese ist multifaktoriell mit starker genetischer Komponente. Ein „Autismus-Gen“ gibt es aber nicht. In Bezug auf psychosoziale Risiken wurden vor allem extremste Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren beschrieben. Eine Vielzahl an biologischen Risikofaktoren ist ebenfalls untersucht worden. Ein erhöhtes mütterliches und väterliches Alter ist als Risikofaktor repliziert worden. Rötelninfektion in der Schwangerschaft sowie die Einnahme von Thalidomid und Valproinsäure gehen mit erhöhten ASS-Raten einher.
Therapie
Es gibt für autistische Störungen keine generell erfolgversprechende Therapie. Für jedes Kind mit ASS muss ein individuelles Programm erstellt und im Verlauf seiner Entwicklung adaptiert werden. Die Therapien basieren auf verhaltenstherapeutischen und heilpädagogischen Ansätzen. Die Ziele der Behandlung bestehen darin, die soziale und kommunikative Entwicklung autistischer Kinder zu unterstützen, ihre allgemeine Lern- und Problemlösefähigkeit zu fördern und rigides Verhalten abzubauen. Eine Heilung der ASS ist bisher nicht möglich.
Menschen mit einer ASS bedürfen häufig vorübergehend einer ergänzenden medikamentösen Behandlung. Hauptindikation sind hyperaktive, aggressive und destruktive Verhaltensweisen, selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien, Ängste und Depressivität sowie Schlafstörungen. Eine Medikation muss in jedem Einzelfall sorgfältig überlegt werden.
Verlauf und Prognose
Die langfristige psychosoziale Prognose von Menschen mit ASS ist variabel. Etwa 15 % erreichen eine als gut zu bezeichnende Selbstständigkeit mit einem Arbeitsplatz auf dem 1. oder 2. Arbeitsmarkt, sie wohnen selbstständig oder mit wenig Unterstützung und haben zufriedenstellende soziale Kontakte. Dabei liegt der ausgeübte Beruf häufig deutlich unter dem, was aufgrund der kognitiven Fähigkeiten und der Ausbildung erwartet werden könnte. 25 % der Menschen mit einer ASS erreichen einen Status, der als fair bezeichnet wird, mit einem geschützten Arbeitsplatz, einer geschützten Wohnsituation und Kontakten zu Gleichaltrigen, die aber lose sind. Etwa 60 % benötigen als Erwachsene sehr viel Hilfe im Alltag, leben in speziellen Einrichtungen und haben keine Kontakte mit Gleichaltrigen außerhalb der Einrichtung.
Für eine günstige psychosoziale Integration von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer ASS sind vor allem ein gutes Intelligenzniveau und das Vorhandensein von kommunikativen Sprachfertigkeiten von Bedeutung.
Weiterführende Literatur
Bölte S, Poustka F (2006) FSK Fragebogen zur sozialen Kommunikation. Huber, Bern
Bölte S, Poustka F (2008) SRS-Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität. Huber, Bern
Falkai P, Wittchen H (Hrgs) (2015) Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen DSM 5. Hogrefe, Göttingen
Freitag CM, Vogeley K (2016) Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN: Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 1: Diagnostik. AWMF. https://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​028-018.​html. Zugegriffen am 02.08.2019.
Kamp-Becker I, Mattejat F, Wolf-Ostermann K, Remschmidt H (2005) Die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS): ein Screeningsverfahren für autistischen Störungen auf hohem Funktionsniveau. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother 33:15–26CrossRef
Noterdaeme M, Ulrich K, Enders A (2017) Autismus-Spektrum-Störungen: Ein integratives Lehrbuch für die Praxis. 2., erw. u. überarb. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart.
Remschmidt H, Kamp-Becker I (2006) Asperger-Syndrom. Springer, HeidelbergCrossRef
Robins D, Fein D, Barton M, Green J (2001) The modified checklist for autism in toddlers: an initial study investigating the early detection of autism and pervasive developmental disorders. J Autism Dev Disord 31:131–148