Vor dem Einsatz von Fluorchinolon-Antibiotika wird bei bestimmten Patienten gewarnt, weil sie scheinbar ein erhöhtes Risiko für Aortenaneurysmen bergen. Zwei aktuelle Studien kommen nun zu anderen Ergebnissen. Wir haben einen Kardiologen gefragt, wie sich das auf die Praxis auswirkt.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) haben im Oktober 2018 einen Rote-Hand-Brief herausgebracht. Darin werden Ärzte aufgefordert, bei Risikopatienten für ein Aortenaneurysma oder einer Aortendissektion den Einsatz von Fluorchinolonen vorsichtig abzuwägen. Vorsicht ist laut EMA und BfArM bei Patienten mit besonderen Risikofaktoren für Aortenaneurysmen/-dissektionen angebracht, dazu gehören Patienten mit
- Aneurysma-Erkrankung in der Familienanamnese,
- vorbestehendem Aortenaneurysma/dissektion,
- Marfan-Syndrom,
- vaskulärem Ehlers-Danlos-Syndrom,
- Takayasu-Arteriitis,
- Riesenzellen-Arteriitis,
- Morbus Behcet,
- Hypertonie und
- Atherosklerose.
Hintergrund dieser Warnung sind die Ergebnisse einer Beobachtungsstudie, nach denen eine Einnahme dieser Antibiotikaklasse mit einem bis zu zweifach erhöhten Risiko für Aortenaneurysmen/dissektionen einhergeht (64 Fälle bei 360.088 mit Fluorchinolonen vs. 40 Fälle von 360.088 ohne). Doch wie groß ist die Gefahr wirklich?
Warnung wird in der Praxis ernst genommen
„Mir ist in 26 Jahren Dasein als Kardiologe keine einzige Aortendissektion (die ja an sich schon eine seltene Erkrankung ist) unter gekommen, die ich mit einem Infekt oder gar einer Fluorchinolon-Einnahme in Verbindung bringen konnte“, berichtete Prof. Holger Reinecke über seine Erfahrungen auf Anfrage von kardiologie.org. Trotzdem nimmt der Kardiologe vom Universitätsklinikum Münster die Warnung ernst und weicht in der Praxis bei entsprechenden Risikopatienten auf alternative Antibiotika aus: „Da es ja viele Alternativen gibt, ist das Ausweichen auf andere Präparate kein Problem“, berichtet er.
In Deutschland zugelassene Wirkstoffe von Fluorchinolonen sind in der Tab. 1 aufgeführt.
Tab. 1: Zugelassene Fluorchinolone in Deutschland |
|
Zwei Studien relativieren Warnhinweis
Als „beruhigend“ stuft der Kardiologe zwei aktuell publizierte Studien ein, die den Warnhinweis der Arzneimittelbehörden zumindest zum Teil relativieren. In einer Fall-Kontroll-Studie mit 28.948 Fällen und 289.480 gematchten Kontrollen hat sich überhaupt kein entsprechendes Risiko bei Fluorchinolon-Einnahme nachweisen lassen, wenn auf die zugrunde liegende Infektion und deren Schweregrad adjustiert wurde. Die Gabe von Fluorchinolonen war in dieser Hinsicht somit nicht gefährlicher als eine Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure, Cephalosporinen oder Ampicillin/Sulbactam.
Infektion birgt wahrscheinlich das Risiko, nicht die Behandlung
Selbst bei älteren Personen über 65 Jahren, Patienten mit Bluthochdruck oder kardiovaskulären Erkrankungen stellten die tawainesischen Wissenschaftler keine Gefährdung durch Fluorchinolone fest. Ihre Ergebnisse bringen Prof. Yaa-Hui Dong und sein Team zu der Vermutung, dass die in vergangenen Studien zu beobachtende Risikoerhöhung für Aortenaneurysmen/dissektionen bei Fluorchinolon-Einnahme eher durch die dadurch behandelte Infektion als durch die Antibiotika-Therapie selbst begründet ist.
Auf die Möglichkeit einer solchen Verzerrung weisen auch US-Wissenschaftler um Dr. Chandrasekar Gopalakrishnan in ihrer Untersuchung hin. Fluorchinolone würden bevorzugt bei Erwachsenen mit schwerwiegenden Infektionen und/oder Begleiterkrankungen eingesetzt, erläutern sie einen potenziellen Bias.
Fallzahlen prinzipiell sehr gering
In ihrer Studie konnten Gopalakrishnan und sein Team die Bedenken allerdings selbst durch ein Propensity-Score-Matching nicht völlig ausräumen: Bei insgesamt 279.554 Patienten, die wegen einer Pneumonie mit Antibiotika behandelt worden sind, gingen Fluorchinolone mit einem mehr als doppelt so hohem Risiko für Aortenaneurysmen/dissektionen einher als Azithromycin (0,03% vs. 0,01%; Hazard Ratio, HR: 2,57). Keine Risikoerhöhung zeigte sich jedoch im Vergleich zu Trimethoprim oder Sulfamethoxazol im Falle von Harnwegsinfekten (insgesamt 948.364 Patienten). Und trotz Adjustierung auf insgesamt 85 Störfaktoren können die Wissenschaftler aus Boston nicht ausschließen, dass die relative Risikoerhöhung in der Pneumonie-Kohorte auf einem Bias beruht. So könnten Aortenaneurysmen bei mit Fluorchinolonen behandelten Patienten einfach deshalb häufiger detektiert werden, weil via Bildgebung mehr danach gefahndet wird.
Zudem fragen sich die Wissenschaftler angesichts des geringen absoluten Risikos (˂0,1%), ob der Verzicht auf Fluorchinolone im Falle einer klaren Indikation wirklich Sinn macht. Der Nutzen einer geeigneten Antibiotika-Therapie überwiege womöglich das damit einhergehende geringe potenzielle Risiko für Aortenaneurysmen/dissektionen, argumentieren sie.
„Man kann sich und den Patienten beruhigen“
„Es war von Anfang an klar, dass die berichteten Fallzahlen sehr, sehr gering sind“, ordnet Reinecke die Ergebnisse ein. Ebenfalls bewusst war dem Kardiologen, dass die bisherigen Daten aufgrund ihres retrospektiven Studiendesigns den typischen Limitationen unterworfen sind. Trotz allem wird er sein Verschreibungsverhalten nach den beiden jüngsten Studien nicht wirklich ändern, da Fluorchinolone ja auch noch eine Reihe von anderen Nebenwirkungen haben können. „Wenn man aber doch mal dazu greifen MUSS, kann man sich und den Patienten nach den neuesten Daten beruhigen“, lautet sein Resümee für die Praxis.
Trotzdem sollte man wachsam bleiben
Trotz der aktuellen Daten ist es nach Ansicht von Reinecke weiterhin sinnvoll, wachsam zu sein und auf mögliche Zusammenhänge zu achten und diese ggf. über das dafür vorgesehene Meldeverfahren an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weiterzugeben.