Was wir bisher über Long-COVID wissen

Mit der diffusen Diagnose Long-COVID haben viele Post-Corona-Patienten ihre Probleme: Objektive Diagnosemarker gibt es nicht, etablierte Therapien auch nicht. Doch die Forschung ist am Syndrom dran – und es gibt vier Hypothesen zur Entstehung. Werden wir in zehn Jahren noch über Long-COVID reden? Etwa 200 Symptome werden dem Syndrom zugerechnet. Allein in Deutschland sollen drei Millionen Menschen betroffen sein. Wie aber kann man das überhaupt wissen? Objektive Diagnosemarker existieren bislang nicht! Ärzte zögerten im Allgemeinen, einen Zustand als organische Krankheit zu betrachten, solange kein pathophysiologisches Konzept dazu vorliegt und es nichts zu messen gebe, erinnerte Professorin Uta Merle vom Universitätsklinikum Heidelberg beim erstmalig in Deutschland stattfindenden Long-COVID-Kongress in Jena. Das führe zu Frustration bei Betroffenen, zu ärztlichem Nihilismus sowie dem Gefühl, die Krankheit gebe es gar nicht, so die Gastroenterologin. Natürlich lässt sich auch eine Depression nicht laborchemisch objektivieren oder eine HWS-Blockierung „abbilden“. Fakt ist: Es gibt viele, bislang schlecht verstandene Postinfektionssyndrome mit und ohne Eigennamen: Post-Ebola-Syndrom, Post-Dengue-Fatigue-Syndrom, Post-Polio-Syndrom. Man kennt das auch von Influenza oder Infektionen mit West-Nil- oder Epstein-Barr-Viren sowie von nichtviralen Pathogenen wie Coxiella burnetii (Q-Fieber-Fatigue-Syndrom). Belastungsintoleranz und Fatigue Klinisch-symptomatisch lassen sich große Überlappungen des Long-COVID (LC)-Syndroms mit anderen chronischen Postinfektionssyndromen feststellen. 25 von 29 Symptomen überschneiden sich mit ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom), einer ebenfalls unzureichend verstandenen neuroimmunologischen Krankheit, erklärte Privatdozent Dr. Christian Puta von der Universität Jena beim Kongress. Hauptsymptome bei Patienten mit Long-COVID-Syndrom sind die Belastungsintoleranz und Fatigue. Die Erschöpfung reicht bis zur Bettlägerigkeit. Ehemalige Leistungssportler können kaum noch 200 Meter gehen. Der viel beschriebene „Brainfog“ meint Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. „Die Liste ist fast endlos“ Hinzu kommen grippeartige Symptome und Schmerzen. „Luftnot, Schlafstörungen, Probleme beim Sprechen, Riechen oder Schmecken, Haarausfall – die Liste ist fast endlos“, erklärte Dr. Daniel Vilser, leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uni Jena in einem Interview im Vorfeld des Long-COVID-Kongresses. Und Tagungsleiter Professor Martin Walter, Chef der psychiatrischen Uniklinik in Jena, erklärte: „Menschen, die vorher zum Teil sehr leistungsfähig waren, schaffen es auch nach Monaten nicht, Anforderungen im Beruf und im Privatleben zu meistern, die vorher kein Problem waren.“ Das zu sortieren, wird derzeit als wesentliche Aufgabe auf dem Weg hin zu gezielten Therapien angesehen. Schon jetzt sind sich Mitglieder des Ärzte- und Ärztinnenverbandes Long COVID sowie Wissenschaftler aus anderen Ländern ziemlich sicher, dass es Long-COVID-Subtypen gibt. Ob diese sich zum Beispiel laborchemisch objektivieren lassen, treibt Grundlagenwissenschaftler derzeit um. Vier Hypothesen zur Entstehung von Long-COVID Es gibt im Wesentlichen vier Hypothesen, wie ein Long/Post-COVID-Syndrom entsteht, erklärte Professorin Akiko Iwasaki, Immunologin und Grundlagenforscherin an der Yale University in New Haven, Connecticut, beim Long-COVID- Kongress in Jena. Hypothese I: SARS-CoV-2 persistiert, ebenso wie andere Viren, latent im Körper und kann für eine chronische Entzündung sorgen. Hypothese II betrifft das Entstehen einer Autoimmunität. Hypothese III basiert auf der Beobachtung von Mikrobiomveränderungen im Darm sowie der Reaktivierung latent vorhandener Viren, namentlich Herpesviren. Hypothese IV: Die akute COVID-19-Erkrankung selbst hat bereits Schäden in verschiedenen Geweben und Organen angerichtet, die zur Symptomatik beitragen. Dabei stellt Akiko Iwasaki die Autoimmunhypothese in Frage, da sich keine erhöhten Antikörpertiter gegen extrazelluläre Proteine finden ließen. Autoantikörper, meint die Immunologin, seien damit keine maßgeblichen Treiber des Long-COVID-Syndroms. Problem ist die Überlappung So bezeichnete Professorin Akiko Iwasaki, Immunologin und Grundlagenforscherin an der Yale University, es als eine „Schlüsselfrage“, warum zum Beispiel bei überdurchschnittlich vielen Menschen mit Long-COVID-Syndrom der Spiegel des Stresshormons Kortisol deutlich erniedrigt ist. Es gibt weitere Hinweise darauf, warum funktionelle Kapazitäten eingeschränkt sind: veränderte Zytokin- und Chemokinspiegel, veränderte Lymphozytenprofile, Strukturveränderungen von Erythrozyten, verbunden mit verminderter Sauerstoffbindungskapazität, womöglich mitochondriale Stoffwechselveränderungen. Merle wies beim Kongress auf erhöhte CCL11-Spiegel hin: Bei mit humanen Coronaviren infizierten Mäusen fand sich dieses Chemokin im Liquor, teils aber auch im Blutplasma erhöht, verbunden mit Mikroglia-Aktivierung, Verlust von Oligodendrozyten in der weißen Hirnsubstanz sowie gestörter Neurogenese. Noch sind das alles Befunde aus Forschungslabors, die keine Relevanz für den klinischen Alltag haben. Das Problem ist die Überlappung solcher Messwerte bei Gesunden und Erkrankten. Statistisch signifikante Unterschiede lassen sich nur zwischen großen Kohorten finden. Im Einzelfall hilft das nicht weiter. Nur bei knapp 75 Prozent der Patientinnen und Patienten mit neuropsychologischen Problemen nach COVID-Erkrankung findet man Marker, die Long-COVID potenziell vorhersagen könnten. Professorin Uta Merle, Uniklinik Heidelberg Integriere man alle bislang identifizierten Long-COVID-Faktoren, so die Heidelberger Internistin, finde man nur bei knapp 75 Prozent der Patientinnen und Patienten mit neuropsychologischen Problemen nach COVID-Erkrankung Marker, die ein Long-COVID-Syndrom potenziell vorhersagen könnten. Patienten lassen sich clustern An der Reha-Klinik Heiligendamm sind nach Angaben der Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergie, Dr. Jördis Frommhold, bislang fast 6000 Patientinnen und Patienten mit Long-COVID-Syndrom behandelt worden. „Man kriegt relativ schnell mit, dass sich diese Patienten clustern lassen“, erklärte Frommhold beim Kongress in Jena. Bei manchen ist das Kardinalsymptom die Fatigue. Bei anderen sind zum Beispiel eher die Störungen der Atemmechanik oder kognitive Beeinträchtigungen führend, manchmal stehen psychosomatische Beschwerden im Vordergrund. Diese Kategorisierung hilft, wenn es darum geht, ein multimodales Behandlungskonzept zusammenzustellen. „Es muss unsere Aufgabe sein, einen roten Faden zu entwickeln“, sagt Frommhold. Bei Störungen der Atemmechanik stehen Atemgymnastik, Atemmuskeltraining, gegebenenfalls auch eine Inhalationstherapie an erster Stelle. Bei Fatigue ist die psychologische Unterstützung erforderlich. Dabei geht es auch um den bestmöglichen Umgang mit Beeinträchtigungen und um Krankheitsakzeptanz. Das Führen von Symptomtagebüchern hilft, Belastungsgrenzen im Alltag zu erkennen und später die stufenweise Wiedereingliederung in den Beruf einzuleiten. Wichtig: Ein Mensch mit Fatigue ist nicht in der Lage, in gleicher Weise Ausdauer- und Krafttraining zu absolvieren wie andere. Von großer Bedeutung ist die sozialmedizinische Beratung, gerade von Betroffenen, die noch 20 oder 30 Berufsjahre vor sich haben. „Was ist mit den Kindern und Jugendlichen?“ Und was ist eigentlich mit den Kindern und Jugendlichen?, fragte eine hartnäckige Kinderärztin beim Kongress immer wieder. Auch von ihnen haben nach derzeitigen Schätzungen etwa zehn Prozent ein Vierteljahr nach überstandener COVID-Erkrankung beeinträchtigende Symptome. Wiedereingliederungsmaßnahmen wie in der Arbeitswelt existieren nicht. Deshalb brauche es auch im Bildungssektor vergleichbare Strukturen, forderte Frommhold. Wenn die individuelle Symptomatik des Long-COVID-Syndroms nicht berücksichtigt wird, kann es sein, dass Rehabilitationsversuche scheitern – eine Erfahrung, die derzeit offenbar gar nicht so selten gemacht wird. Es ist wichtig, bereits beim Reha-Antrag die führende Symptomatik und das individuell maßgebliche Problem zu beschreiben. Zudem dürfe man das Zeitintervall, bis die stationäre Reha startet, nicht ungenutzt verstreichen lassen, hieß es beim Kongress. Institut mit Lotsenfunktion Berücksichtigt werden muss nach Auffassung der Long-COVID-Spezialisten außerdem, dass es mit der stationären Rehabilitation oft noch nicht getan ist. Nach abgeschlossener Rehabilitation müssen die berufliche Wiedereingliederung, die Fortsetzung der Therapien sowie gegebenenfalls die Begutachtung von Rentenansprüchen geregelt werden. Empfehlung der Redaktion Dossier Alles Neue zu Covid-19 und SARS-CoV-2 Stetig aktualisiert und immer auf dem neuesten Stand: In diesem Dossier haben wir wichtige und relevante Neuigkeiten zu SARS-CoV-2 und der Lungenkrankheit COVID-19 für Sie zusammengestellt. Von Diagnostik und Therapie bis hin zur Prävention und Epidemiologie bleiben Sie hiermit immer up to date. Menschen, die weiter an kognitiven Einschränkungen und/ oder Fatigue leiden, sind damit überfordert. Es braucht einen Lotsen. Jedoch sind Primärärzte, nicht zuletzt angesichts der Erkrankungszahlen, damit ebenfalls überfordert. In Mecklenburg-Vorpommern ist daher jetzt ein vom Land finanziell unterstütztes Modellprojekt gestartet und in Rostock dafür ein „Institut Long Covid“ gegründet worden. Seine Hauptaufgabe in Kooperation mit den beiden Unikliniken des Landes: Management der Langzeitfolgen einer COVID-Erkrankung mit Koordination der erforderlichen Maßnahmen, teils auch telemedizinisch. Dazu gehören unter anderem auch die Prävention und Aufklärung der Betroffenen, die Schulung des medizinischen Personals sowie die Beratung von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Kliniken zum Umgang mit Long-COVID. Was bei Long-COVID-Kranken auffällt Auffällig ist, dass sich bei Long-COVID-Patientinnen und -Patienten vermehrt Antikörper gegen das Coronavirus finden, Antikörper, die aber wenig effizient sind, um das Virus zu neutralisieren. Dies geht einher mit einem deutlich veränderten immunologischen Profil, etwa was bestimmte T-Zell- und B-Zell-Populationen sowie das vermehrte Auftreten nichtklassischer Monozyten angeht. Insgesamt bietet sich ein Bild komplexer immunologischer Veränderungen, die als Muster und mit Hilfe Maschinellen Lernens analysiert werden können und dann mit einer gewissen positiven Vorhersagewahrscheinlichkeit für ein Long-COVID-Syndrom sprechen. Für die diagnostische Praxis im Alltag ergeben sich daraus allerdings noch keine Konsequenzen. Hinweise auf Dysbiose Professorin Uta Merle, Uniklinik Heidelberg, ging beim Kongress auf die dysbiotischen Veränderungen im Darm ein. „Es gibt viele Hinweise darauf, dass es bei akuter COVID-Erkrankung zu einer Dysbiose kommt.“ Diese Veränderungen sind mit dem Schweregrad der Erkrankung assoziiert. Wer ein halbes Jahr nach COVID-Erkrankung noch Beschwerden hat, weist oft noch immer eine Dysbiose auf, während genesene Patienten eine physiologische Darmflora haben. Im Tierversuch waren dysbiotische Veränderungen mit kognitiven Störungen verbunden, erklärte Merle. Dennoch ergeben nach Angaben der Gastroenterologin gegenwärtig Mikrobiomanalysen bei einzelnen Patienten keinen Sinn: Die Veränderungen seien zwar als Muster in Patientenkohorten erkennbar, im Einzelfall sei es jedoch schwer, eine Korrelation zur Symptomatik herzustellen. Die Behandlung mit Probiotika hatte im Tierversuch keine günstigen Effekte. Weitere bei Long-COVID-Syndrom beobachtete Veränderungen sind Mikrogerinnsel in Gefäßen, morphologische Veränderungen von Erythrozyten, die sich negativ auf die Sauerstoffbindungskapazität auswirken sowie Veränderungen im mitochondrialen Stoffwechsel. Insgesamt bietet sich ein komplexes pathophysiologisches Bild. Quelle: Ärzte Zeitung

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