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Open Access 24.04.2024 | Originalien

Subjektive Belastung durch Sichtkontrollen bei Urinabgaben im Rahmen von Abstinenzüberprüfungen

verfasst von: Dr. med. A. Holzer, M. Graw, A. Hameder, M. Eppler, S. Schick

Erschienen in: Rechtsmedizin

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Zusammenfassung

Hintergrund

Laut einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (Aktenzeichen: 2 BvR 1630/21) stellt eine Urinabgabe unter Sichtkontrolle in einer Justizvollzugsanstalt einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar, der die Intimsphäre eines Inhaftierten berührt. Auch bei Dopingkontrollen fühlen sich immer wieder Athleten durch das beobachtete Urinieren beeinträchtigt. Es liegen jedoch bislang kaum Daten vor, die die psychische Belastung einer Urinabgabe im Rahmen von Abstinenzüberprüfungen, z. B. bei Fahreignungsbegutachtungen oder Bewährungsauflagen, untersuchen.

Material und Methoden

Es wurden 100 Personen (davon 84 % männlich), die sich in 5 Entnahmestellen in Bayern, Thüringen und Baden-Württemberg zur Abstinenzkontrolle mittels Urinprobe vorstellten, fragebogenbasiert zu ihrer subjektiven Wahrnehmung der Sichtkontrolle und dem Wunsch nach einem nicht näher definierten, kosten- und zeitintensiveren alternativen Verfahren befragt.

Ergebnisse

Es gaben 37 % der Probanden (n = 31) und 44 % der Probandinnen (n = 7) an, die Sichtkontrollen nicht als unangenehm zu empfinden, wohingegen 12 % der männlichen (n = 10) und 31 % der weiblichen Untersuchten (n = 5) diese Methode als „sehr unangenehm“ oder sogar „unerträglich“ wahrnehmen. Während 75 % der Beteiligten kein alternatives Verfahren wünschen, sind 32 Personen bereit, einen zunächst begrenzten zeitlichen und/oder finanziellen Mehraufwand in ein solches Verfahren zu investieren.

Diskussion

Die Ergebnisse der Untersuchung legen nahe, dass die Urinabgaben unter Sichtkontrollen mit keiner wesentlichen psychischen Belastung für 85 % der untersuchten Personen einhergehen und offenbar kein vermehrtes Interesse an einem mit Zeit- und Kostenmehraufwand verbundenen alternativen Verfahren vorliegt.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Im Juli 2022 kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass eine Urinabgabe unter Sichtkontrolle das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt (Aktenzeichen: 2 BvR 1630/21). Ein Inhaftierter einer Justizvollzugsanstalt (JVA) hatte Beschwerde eingelegt, da er die Entblößung seines Genitales im Zuge von Drogenscreenings gemäß § 65 Abs. 1 StVollzG NRW als „entwürdigend und beschämend“ empfand [5].
Die Abgabe einer Urinprobe unter Sicht wird in verschiedenen Bereichen gefordert. Neben der Überprüfung einer Alkohol‑/Drogen‑/Medikamentenabstinenz, u. a. im Zusammenhang mit einer Fahreignungsbegutachtung oder mit Bewährungsauflagen, wird sie bei Dopingkontrollen im Leistungssport oder zur Feststellung von Suchtmittelkonsum, u. a. in JVA, durchgeführt. Ziel der Kontrollen ist es, Suchtmittelmissbrauch bzw. den Gebrauch von körperfremden Substanzen zur Leistungssteigerung aufzudecken, wobei sich Urin aufgrund der längeren Nachweisdauer und der weniger invasiven Probengewinnung als Probenmaterial besser eignet als Blut [3, 11]. Um etwaige positive Untersuchungsergebnisse zu verschleiern, ist der Versuch einer Probenmanipulation durch die Betroffenen denkbar. Um Manipulationen möglichst zu vermeiden, wird im forensischen Setting von den anerkannten Untersuchungsstellen eine Urinabgabe unter Sichtkontrolle gefordert, wodurch gewährleistet werden soll, dass die Probe eindeutig einem Probanden zugeordnet und die Zusammensetzung der Probe nachträglich nicht verändert werden kann. Der Einsatz von sog. Markerverfahren, bei denen bestimmte Stoffe (sog. Marker) nach dem Zufallsprinzip vom Probanden vor der Uringewinnung eingenommen und in der Urinprobe bestimmt werden müssen, ist nach Auffassung der Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie (GTFCh), der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM), der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) und der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM) nicht geeignet, Manipulationen auszuschließen und Sichtkontrollen zu ersetzen [14].
Franz et al. beobachteten jährlich bis zu 8 Manipulationsversuche bei ca. 7000 Urinabgaben zu Abstinenzkontrollzwecken [13], während in der Arbeit von Kluge et al. Täuschungen in 6 der 550 untersuchten Urinproben zur Abstinenzkontrolle identifiziert werden konnten [17]. Auch bei Dopingkontrollen wird wiederholt von Manipulationen der Urinproben berichtet, wie beispielsweise im Jahr 1992, als die Leichtathletinnen Katrin Krabbe, Grit Breuer und Silke Möller jeweils identische Urinproben vorwiesen [8].
Die Möglichkeiten der Manipulation sind mannigfaltig und umfassen neben Methoden der In-vivo-Probenverfälschung – z. B. durch exzessive Flüssigkeitsaufnahme oder Einnahme von Diuretika zur Verdünnung des Urins – auch in vitro durchgeführte Täuschungsversuche durch Beimengung von Fremdsubstanzen nach der Blasenentleerung wie beispielsweise Essig, Waschmittel oder anderen Chemikalien, um eine Substanzdetektion in den chemisch-toxikologischen Analysen zu stören oder zu verhindern. Darüber hinaus kann der Urin durch Flüssigkeiten wie beispielsweise Fremd- oder „Fakeurin“ substituiert werden. Die Vorgehensweisen reichen in diesem Zusammenhang von Applikation der Fremdflüssigkeit durch Katheterisierung der Harnblase im Vorfeld der Probennahme bis hin zu kommerziell verfügbaren Penisprothesen, wie z. B. „The Whizzinator“, der in verschiedenen Hauttönen und mit einem Heizkissen zur Erwärmung einer als Urin vorgewiesenen Fremdflüssigkeit auf Körpertemperatur erhältlich ist [9, 16, 19].
Um Täuschungsversuche möglichst auszuschließen, wird als Standardverfahren bei Urinkontrollen zur Alkohol‑/Drogen‑/Medikamentenabstinenz im forensischen Setting eine Sichtkontrolle in Anlehnung an die Bestimmungen der World Anti-Doping Agency (WADA) [6] und der Stiftung Nationale Anti Doping Agentur Deutschland (NADA) [4] gefordert. Die Vorgaben sind in den Beurteilungskriterien zur Fahreignungsbegutachtung niedergelegt und beinhalten u. a., dass für die Kontrollperson eine ungehinderte Sicht auf die Körperaustrittsöffnung während der Probenabgabe gesichert sein muss, was zwingend mit einer Freilegung des Genitales und der Unterarme verbunden [3]. Vorgaben für bauliche Vorrichtungen in den Entnahmestellen existieren zwar nicht, es muss jedoch gewährleistet sein, dass die Toiletten für beide Geschlechter so ausgestattet sind, dass die Gewinnung der Urinprobe direkt oder indirekt (z. B. durch geneigte Spiegel) kontrolliert werden kann [2].
Laut Bundesverfassungsgericht stellen beaufsichtigte und mit einer Entkleidung verbundene Urinprobenahmen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar und berühren die Intimsphäre der betroffenen Personen und bedürfen daher besonderer Rücksichtnahme und Abwägung [5]. Zwar erfolgen die Abstinenzkontrollen teils im eigenen Interesse der Betroffenen – z. B. um einen Führerschein wiederzuerlangen oder der Vollstreckung einer Strafe zu entgehen –, allerdings ist nicht davon auszugehen, dass sich hierdurch das Schamgefühl der Probanden und Probandinnen reduziert. Die psychischen Auswirkungen einer beobachteten Urinprobenabgabe auf die Betroffenen wurden bislang lediglich im Kontext von Dopingtests, die jedoch für die Athleten verpflichtend sind, um an Wettkämpfen teilnehmen zu dürfen, untersucht. Die negativen Wahrnehmungen reichen hierbei von „peinlich berührt“ über „gedemütigt“ [7] bis hin zur Verletzung der persönlichen Integrität [9] und können im ungünstigsten Fall einen psychogenen Harnverhalt (Paruresis) zur Folge haben [9, 10, 15].
Alternative Methoden zur Sichtkontrolle existieren bislang kaum. Im Zuge der Pandemie wurden virtuelle, kontaktlose Verfahren z. B. via Videotelefonie [12], die jedoch bislang ebenso wenig in den Bestimmungen der WADA oder der Fahreignungsbegutachtung Berücksichtigung fanden wie sog. Markerverfahren, erprobt [1, 14].
Ziel der Erhebung war es, einen Einblick zu gewinnen, wie beeinträchtigt sich Betroffene durch die Sichtkontrollen bei Abstinenzüberprüfungen fühlen, ob ein grundsätzliches Interesse an alternativen Verfahren besteht und welche Mehrkosten die Betroffenen bereit wären, hierfür in Kauf zu nehmen.

Methodik

Zur Abschätzung der individuellen Belastung einer Sichtkontrolle wurden Probandinnen und Probanden, die 2019 an einem Abstinenzkontrollprogramm mit Urinscreenings in insgesamt 5 Entnahmestellen in Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen teilnahmen, nach dem Zufallsprinzip unter Verwendung eines standardisierten Fragebogens untersucht.
Der Fragebogen wurde von den Autoren entwickelt und umfasst neben soziodemografischen Variablen wie Alter und Geschlecht den Grund der Probennahme. Die teilnehmenden Personen wurden gebeten, anhand einer 4‑stufigen Skala einzuschätzen, wie unangenehm sie die praktizierte Abgabe der Urinprobe empfinden, wobei die 4‑stufige Skala von „nicht unangenehm“ über „etwas unangenehm“ und „sehr unangenehm“ bis zu „unerträglich“ reichte. Zudem sollten sie abwägen, ob sie an nicht näher definierten, alternativen Verfahren interessiert wären, die die Urinprobenahme unter Beobachtung zwar ersetzen würden, jedoch mit einem finanziellen und zeitlichen Mehraufwand verbunden wären. Bei Interesse an einem alternativen Verfahren sollte in einer offenen Frage der maximale finanzielle und zeitliche Zusatzaufwand, den sie zu tragen bereit wären, angeben werden.
Die Teilnahme an der Umfrage war für die Probandinnen und Probanden freiwillig, verbunden mit der Aufklärung, dass hierdurch weder Vor- noch Nachteile für sie entstehen. Von den Entnahmestellen wurden in der zweiten Jahreshälfte 100 vollständig ausgefüllte Fragebogen zurückgeschickt, was einer Rücklaufquote von 100 % entspricht. Der Fragebogen wurde anonymisiert erfasst und die Einträge zunächst deskriptiv ausgewertet. Bivariat wurde analysiert, inwieweit sich Alter, Geschlecht, der Anlass der Urinprobe und das Ausmaß eines unangenehmen Gefühls auf den Wunsch nach einer Alternative auswirken; zusätzlich wurden dafür auch die Einträge „sehr“ und „unerträglich“ unangenehm zur Kategorie „sehr unangenehm“ und die Einträge „nicht“ und „wenig“ unangenehm zu „eher nicht unangenehm“ zusammengefasst. Es wurden Kreuztabellen erstellt und der Chi2-Test angewendet, für das Alter wurde mittels Mann-Whitney-U-Test verglichen. Die Assoziation zwischen dem Ausmaß des unangenehmen Gefühls und Geschlecht wurde ebenso überprüft. Für die Fälle mit Wunsch nach Alternativen wurde die Höhe der maximalen Mehrkosten in Euro und des maximalen Zeitaufwands in Minuten dafür nach Ausmaß des unangenehmen Gefühls und nach Geschlecht getrennt ausgewertet. Die Statistik und die Diagramme wurden mit IBM® SPSS Version 23 erstellt. Boxplots stellen als Box den Bereich vom 25. bis zum 75. Perzentilwert dar, der Median wird angezeigt. Die Whiskers dokumentieren den höchsten bzw. niedrigsten Wert, der innerhalb des 1,5-fachen Interquartilsbereichs (IQR) ab der oberen bzw. ab der unteren Boxgrenze in den Daten auftritt. Ausreisser liegen zwischen dem 1,5-fachen und dem dreifachen IQR und werden mit einem Kreis gekennzeichnet, Extremwerte liegen außerhalb des dreifachen IQR und werden mit einem Sternchen markiert.

Ergebnisse

Das Untersuchungskollektiv umfasste überwiegend männliche Probanden (n = 84, 84 %); der Altersdurchschnitt betrug bei ihnen 36 Jahre (Range 18 bis 62 Jahre, Median 35 Jahre); die Frauen waren tendenziell etwas älter (23 bis 67 Jahre, Median 41,5 Jahre). Es unterzogen sich 67 Probandinnen und Probanden (67 %) einem Abstinenzkontrollprogramm im Rahmen einer Fahreignungsbegutachtung, und in 26 Fällen (26 %, darunter eine Frau) wurden Urinkontrollen im Zusammenhang von Bewährungsauflagen durchgeführt. Dass eine Urinprobe sowohl wegen einer Bewährungsauflage als auch wegen einer Fahreignungsbegutachtung gefordert sei, kreuzten 3 männliche Teilnehmer (3 %) an, während 4 männliche Probanden sonstige Gründe wie beispielsweise Führungsaufsicht oder eine freiwillige Untersuchung angaben.
Es gaben 38 % der Probandinnen und Probanden an, keine subjektive Belastung durch eine Urinabgabe unter Sichtkontrolle zu empfinden. Knapp die Hälfte des Untersuchungskollektivs (47 %) fühlte sich durch das Urinieren unter Beobachtung leicht beeinträchtigt, wohingegen das Vorgehen für 12 der untersuchten Personen (12 %) sehr unangenehm und für 3 (3 %) gar unerträglich war. Zwar nahmen 43,8 % der untersuchten Frauen (n = 7) keine Belastung durch die praktizierte Entnahmemethode wahr, allerdings ist der Anteil derer, die die Urinkontrolle unter Beobachtung als „sehr unangenehm“ bzw. „unerträglich“ empfanden (Frauen: n = 5, Männer n = 10) gegenüber denjenigen, die dadurch keine oder nur eine geringe Belastung wahrnahmen (Frauen: n = 11, Männer: n = 74), bei den Frauen signifikant (p = 0,047) höher, Abb. 1.
An einem alternativen Verfahren ohne Sichtkontrolle waren insgesamt 25 Personen interessiert. Während keine altersspezifischen Unterschiede festzustellen sind (Mediane bei 35 bzw. 36 Jahren, p = 0,711), scheinen Frauen einer Alternative gegenüber eher aufgeschlossen zu sein (43,8 % (7 von 16) der Frauen im Gesamtkollektiv, 21,4 % der Männer (18 von 84), p = 0,059). Auch der Grad der individuellen Belastung durch die Sichtkontrollen scheint Einfluss auf das Interesse zu haben. So waren 13 von 15 (87 %) Teilnehmenden mit einer subjektiven starken bzw. unerträglichen Belastung an einem alternativen Verfahren interessiert, während lediglich 12 der 85 (14 %) Probanden und Probandinnen ohne subjektive Belastung den Wunsch nach einer Alternative äußerten (p < 0,001), Abb. 2. Der Wunsch nach einer Alternative zeigt keine statistische Assoziation mit dem Grund der Urinabgabe (p = 0,759); die 3, die als Grund Bewährung und eine Fahreignungsbegutachtung angaben, wünschten alle keine Alternative.
Die 25 Personen mit dem Wunsch nach einer Alternative würden im Median 30 min zusätzlich dafür in Kauf nehmen; die Spannweite reichte von keinem zusätzlichen Zeitaufwand bis zu 180 min; dafür würden sie zwischen 0 und 110 € mehr ausgeben, im Median 20 €. Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern oder dem Grad der individuellen Belastung zeigte sich hierbei nicht, Abb. 3 und 4. Nur ein Proband würde weder Zeit noch Geld investieren; zwei weitere wären bereit, Zeit (männlich: 10 min, weiblich: 30 min), aber kein Geld zu investieren; ein Proband würde nur 80 € Zusatzkosten, aber keinen zeitlichen Mehraufwand tragen.
Sieben weitere Personen (6 Männer und eine Frau) waren zwar an keiner Alternative interessiert, trugen aber Geld- und Zeitbeträge ein, die sie maximal zu investieren bereit wären. Diese lagen im Median bei 5 € (0–150 €) bzw. 15 min (0–60 min).
Diejenigen, die Interesse an einem alternativen Verfahren bekundeten, würden nicht signifikant mehr Geld oder Zeit investieren als diejenigen, die kein Interesse geltend machen, aber dennoch bereit wären, einen zeitlichen oder finanziellen Mehraufwand zu investieren. Statistisch signifikante alters- oder geschlechtsspezifische Unterschiede bzw. Unterschiede in der individuell wahrgenommenen Belastung durch die Sichtkontrolle sind zwar nicht zu verzeichnen, allerdings würden Männer sowie Probandinnen und Probanden, die die Sichtkontrolle als sehr unangenehm bis unerträglich empfinden, tendenziell auch mehr Zeit und/oder Geld aufwenden.
Bei den 3 Teilnehmenden, die die Sichtkontrolle als „unerträglich“ empfanden, war lediglich bei 2 Personen der Wunsch nach einer Alternative, für die sie einen Mehraufwand von 30 min bzw. 40 min sowie 40 € bzw. 20 € investieren würden, zu erkennen (Tab. 1).
Tab. 1
Teilnehmende, die eine sehr hohe Belastung („unerträglich“) durch die Sichtkontrolle empfinden
Lfd. Nr.
Geschlecht
Alter
Grund für Abstinenzkontrolle
Interesse an alternativem Verfahren
Max. finanzieller Mehraufwand
Max. zeitlicher Mehraufwand
Sonstiges
42
w
48 J
Fahreignungsbegutachtung
Ja
20 €
40 min
71
m
26 J
Fahreignungsbegutachtung
Nein
87
m
19 J
Sonstiges
Ja
40 €
30 min
Vorschlag: Anwendung einer Kamera

Diskussion

Die Ergebnisse der Untersuchung legen nahe, dass Sichtkontrollen bei der Abgabe von Urinproben insbesondere für den Großteil der männlichen Betroffenen offenbar keine wesentliche psychische Belastung darstellen. Lediglich 15 % der befragten Personen empfanden die Sichtkontrollen als „sehr unangenehm“ oder gar „unerträglich“, während 38 % der Befragten keinerlei Unannehmlichkeiten angaben. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen bereits 2014 Elbe et al. [9], die dänische Leistungssportlerinnen und Leistungssportler im Rahmen einer Fragebogenstudie zu ihrer Einstellung zu Dopingtests befragten. Es gaben 15,3 % der befragten Athletinnen und Athleten an, dass durch die Beobachtung beim Urinieren ihre persönliche Integrität verletzt werde, während sich 33,4 % der Sportlerinnen und Sportler wegen Schwierigkeiten beim Wasserlassen „gestresst“ fühlten. In Deutschland tätiges Doping-Kontrollpersonal vermutet in ca. 42 % der Kontrollen Verzögerungen bei der Urinabgabe, was es vornehmlich auf die psychische Belastung in der Kontrollsituation zurückführt [18]. Diese Vermutung konnten Elbe et al. bestätigen, indem 60 % der 222 befragten deutschsprachigen Sportlerinnen und Sportler angaben, mindestens einmal einen psychogenen Harnverhalt bei Dopingkontrollen erfahren zu haben [10]. Die höhere Belastung der Sportlerinnen und Sportler lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass Probandinnen und Probanden im Vorfeld der Abstinenzkontrolle das Probenmaterial (Haar oder Urin) selbst wählen können und in der Regel keine sportlichen Höchstleistungen vor dem Toilettengang erbringen müssen. Auch besteht bei einer erfolglosen Urinprobenabgabe nicht die Gefahr, dass die Testung als positiv gewertet wird, was ggf. mit dem Ende einer Sportkarriere verbunden sein kann [9], vielmehr kann bei einer Abstinenzkontrolle eine Probe u. U. auch wiederholt werden [3]. Dass die kontrollbedingte Belastung subjektiv sehr unterschiedlich wahrgenommen wird, unterstreicht eine Untersuchung unter nordamerikanischen Athletinnen und Athleten, von denen 71,4 % angaben, dass ein Dopingtest für sie „keine große Sache“ darstelle [7].
Im Gegensatz zu Untersuchungen unter Sportlerinnen und Sportlern [9, 18], die keine geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen konnten, empfanden die Frauen der gegenständlichen Untersuchung eine beobachtete Urinprobenahme unangenehmer als Männer. Anders als in den Dopingbestimmungen der WADA [6] und NADA [4] ist bei Urinkontrollen im Zusammenhang mit Fahreignungsbegutachtungen gemäß CTU-Kriterien keine geschlechtsidentische Kontrollperson gefordert [3], was zu einer unangenehmeren Atmosphäre für Frauen beitragen kann.
Lediglich 25 der befragten Personen (davon 28 % weiblich) waren an einem alternativen Verfahren ohne Sichtkontrolle bei zusätzlichem finanziellen und/oder zeitlichen Mehraufwand interessiert. Das Ergebnis unserer Untersuchung suggeriert ein deutlich geringeres Bestreben nach alternativen Verfahren im Kontext von Abstinenzüberprüfungen als unter Sportlerinnen und Sportlern, die typischerweise die Kosten für die Dopingkontrollen nicht selbst tragen müssen. In der Arbeit von Elbe et al. wurde die Haltung hinsichtlich Markerverfahren im Rahmen von Dopingkontrollen unter Athletinnen und Athleten untersucht. Während ein Teil der Studienteilnehmenden seine Einstellung anhand eines Fragebogens theoretisch einschätzen sollte, unterzog sich ein anderer Teil der Studienteilnehmenden zunächst einer Urinkontrolle mittels Markerverfahren und wurde im Anschluss daran standardisiert befragt. 47,6 % der hypothetisch befragten und 85,3 % der die Alternative testenden und in Dopingtests erfahrenen Athletinnen und Athleten würden demnach ein Markerverfahren gegenüber den Sichtkontrollen bevorzugen [11].
Nur 2 der 3 Personen, die die Sichtkontrollen als „unerträglich“ wahrnahmen, waren einer Alternative gegenüber positiv aufgeschlossen, wobei der akzeptierte Mehraufwand nicht überdurchschnittlich war. Die gegenständliche Erhebung lässt somit vermuten, dass eine sehr hohe subjektive Belastung nicht zwingend mit einer erhöhten Bereitschaft für alternative Methoden einhergeht, oder dass in diesen Einzelfällen die finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten eher begrenzt sind.
Die eingangs erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist nur eingeschränkt auf unser Untersuchungskollektiv übertragbar, da die Voraussetzungen des § 65 StVollzG NRW mit einer Teilnahme an einem Abstinenzkontrollprogramm nicht vergleichbar sind. Die Richterinnen und Richter stellten zwar fest, dass staatliche Maßnahmen, bei denen sich Betroffene entkleiden müssen, einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen. Da sie von besonderem Gewicht und im Strafvollzug nicht immer vermeidbar seien, habe der Gefangene Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Neben der Frequenz der anlasslosen Drogenscreenings wurde im Urteil u. a. auch das Versäumnis der JVA, dem Häftling eine Kapillarblutprobe als milderes Mittel anzubieten, kritisiert [5]. Diese Kritikpunkte treffen auf ein Abstinenzkontrollprogramm jedoch nicht vollumfänglich zu. Zwar erfolgt die Überprüfung der Abstinenz im Auftrag der Betroffenen selbst, auch ist die Anzahl der Proben gemäß der Richtlinien innerhalb eines bestimmten Zeitraums vorab festgelegt und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können zwischen einer Urin- und Haaranalytik wählen, allerdings begründen sich auch die forensischen Urinkontrollprogramme nicht gänzlich auf der Freiwilligkeit der Probanden und können bei Nichtkooperation mit teils erheblichen negativen Folgen für die Betroffenen (z. B. Widerruf einer Bewährung) einhergehen.

Limitierung

Bei 100 Teilnehmenden ist das Ergebnis der gegenständlichen Stichprobe nicht repräsentativ und bedarf der weiteren, umfassenderen Erhebung in einem größeren Untersuchungskollektiv. Da die psychogene Belastung einer Methode inter- und intraindividuell unterschiedlich ist und von multiplen Faktoren wie beispielsweise der Persönlichkeitsstruktur der Probanden und Probandinnen oder den individuellen Erfahrungen mit Urinkontrollen abhängt, wäre die Erhebung zusätzlicher, persönlichkeitsassoziierter Variablen in zukünftigen Untersuchungen anzustreben, um die Aussagekraft zu erhöhen.

Fazit für die Praxis

Die Ergebnisse der Befragung legen nahe, dass sich Probandinnen und Probanden, die sich aufgrund eines Abstinenznachweises einer Urinprobenabgabe unterziehen, durch die Sichtkontrolle nicht wesentlich belastet fühlten, wenngleich sich Frauen mit der Maßnahme unwohler fühlten als Männer. Ein alternatives Verfahren, das ohne Sichtkontrolle, jedoch mit einem finanziellen und/oder zeitlichen Mehraufwand verbunden ist, befürworteten lediglich 21 % der befragten Männer und 44 % der Frauen. Ein dringender Handlungsbedarf hinsichtlich der Anpassung der gängigen Methoden zur Probengewinnung im Zusammenhang mit Abstinenzkontrollen ist somit aus Sicht der überwiegend männlichen Betroffenen nicht zu erkennen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

A. Holzer, M. Graw, A. Hameder, M. Eppler und S. Schick geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Subjektive Belastung durch Sichtkontrollen bei Urinabgaben im Rahmen von Abstinenzüberprüfungen
verfasst von
Dr. med. A. Holzer
M. Graw
A. Hameder
M. Eppler
S. Schick
Publikationsdatum
24.04.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-024-00694-9

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