Der tiefgreifende Wandel der gesellschaftlichen Atmosphäre lässt fragen, wie sich individuelle Überzeugungen gegenüber den gesellschaftlich herrschenden Ideen („Zeitgeist“) verhalten und inwieweit sie einander bedingen. So können individuelle Überzeugungen zu gesellschaftlich herrschenden Ideen werden, wenn sie von charismatischen Individuen vorgetragen werden und Menschen enthusiasmieren. Ebenso geht es umgekehrt um die Frage, wie weit individuelle Überzeugungen sich dem Wandel des Zeitgeistes anpassen oder stabil bleiben – und dadurch auch widerständig werden können. Anpassung kann Zeichen von Lernfähigkeit sein, sich durch Argumente überzeugen zu lassen. Anpassung kann aber auch auf Opportunismus hinweisen, wenn man sich um des eigenen Vorteils willen (einschließlich des Wohlfühlens in einer irrenden Gruppe) an unerwünschte gesellschaftliche Veränderungen anpasst. Nicht selten sind beide Determinanten von Anpassung gemischt. Ebenso kann es positiv als charakterfest konnotiert werden, an der eigenen Überzeugung trotz eines dagegenstehenden Zeitgeistes festzuhalten; das gleiche Verhalten kann aber auch als Lernunfähigkeit oder Rigidität eines „Betonkopfes“ denunziert werden.
Gelegentlich bleibt offen, ob einer Anpassung an den Zeitgeist ein Überzeugungswandel oder nur ein taktisches Überlebensmotiv zugrunde liegt. Zwei Beispiele:
Solche Anpassungen sind nicht nur individuell, sondern auch für ganze Gesellschaften zu beobachten, wenn sich der epochale Hintergrund ändert. So lautete vor 200 Jahren der erste Satz eines verbreiteten und einflussreichen Psychiatriebuches: „ein Irrer ist wie ein unmündiges Kind“ [
8]. – Heute hingegen fordert der Respekt vor den Menschenrechten, das Selbstbestimmungsrecht auch von Menschen mit psychischen Krankheiten anzuerkennen. Aber auch nach einem kürzeren Zeitraum ist solch ein Einstellungswandel deutlich. So waren Mitte des vorigen Jahrhunderts junge Ärzte empört, wenn sie zufällig hörten, dass Juristen ihre ärztliche Intervention mit Strafe bedrohten, wenn sie nicht die Zustimmung des Patienten eingeholt hätten. Empört waren sie, weil sie überzeugt waren, dass ihre wissensbasierte fachliche Kompetenz besser als die des Patienten war und dass ihr darauf gegründetes Handeln dem Besten ihres Patienten diente. Gelegentlich wurde dies Patienten deutlich zu machen gesucht, indem man ihnen sagte, dass sie zwar die Experten für das Kranksein sind, also für das Leiden an der Krankheit, der Arzt hingegen der Experte für die Krankheit ist, die er behandeln soll. Heute jedoch informieren Ärzte den Patienten vor jeder Intervention über deren Nutzen und Risiken und unterstützen seine Entscheidung – und sind zunehmend davon überzeugt, dass dieser Wandel von paternalistischer zu partnerschaftlicher Einstellung richtig ist.
Das führt zur Frage nach dem Umfeld, in dem sich unsere heutigen Überzeugungen entwickelt haben? Gemeint ist der
gesellschaftliche Kontext
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vom nationalsozialistischen Terrorstaat über
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das Schweigen der aufbauorientierten Nachkriegsgeneration
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zur änderungswillig-erregten Stimmung der 1968er-Jugendrebellion
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und weiter über die zeithistorisch unterlegte Entwicklung unserer Erinnerungskultur
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bis zur heutigen liberal-demokratischen Gesellschaftsverfassung auf der Grundlage eines Grundgesetzes, das unmittelbar nach dem Krieg aus der Diktaturerfahrung geboren worden war.
Psychiatriespezifischer wurde der Kontext bestimmt
Vermutlich viele Ärzte hatten zwar Mitscherlichs und Mielkes Bericht (1960; [
13]) über die bereits im Nürnberger Ärzteprozess 1948 aufgedeckten Verbrechen gelesen, sie aber nur einzelnen Ärzten oder einer nur sehr kleinen Minderheit von Ärzten zugeordnet. Etliche waren gewiss auch entsetzt, konnten jedoch keinen Bezug zu ihrer ärztlichen Tätigkeit sehen. Erst ab den 1990er-Jahren wurde die Relevanz dieser damals verurteilten Verbrechen für den heutigen Umgang mit psychisch kranken Menschen deutlich [
14],
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so etwa die damals euphemistisch „Euthanasie“ bzw. „Gnadentod“ genannte und gleichwohl geheim gehaltene Ermordung psychisch Kranker für den heutigen Umgang mit dem assistierten Suizid
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oder die Zwangssterilisation chronisch psychisch Kranker aus eugenischen oder ökonomischen Gründen, die heute bei Priorisierungen aus wirtschaftlichen Gründen nicht ausgeschlossen sind,
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oder auch die potenziell tödlichen Experimente mit Menschen ohne deren Einwilligung für die durch den Nürnberger Kodex angestoßene Entwicklung der heute gültigen differenzierten Regeln zur Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Kranken.
Dabei wurde auch die Frage virulent: wie stabil unsere heutige Überzeugung ist, wenn sich der Zeitgeist weiterdreht, wenn etwa eine konfuzianische oder islamische oder auch uns noch unbekannte Gesellschaftsüberzeugung die im abendländischen Europa herrschende jüdisch-christliche Idee möglicherweise ersetzt haben könnte?
Wer das für abwegig hält, sollte daran denken, dass die gegen die christliche „Humanitätsduselei“ gerichtete rassenhygienische Ideologie der Nationalsozialisten ein Rückfall in vorchristlich-archaische Gesellschaftsverhältnisse war, ein Rückfall, den Hitler aktiv betrieb:
„Unsere Revolution ist nicht bloß eine politische und soziale, wir stehen vor einer ungeheuren Umwälzung der Moralbegriffe und der geistigen Orientierung des Menschen. Wir beenden einen Irrweg der Menschheit. Die Tafeln vom Berge Sinai haben ihre Gültigkeit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung“ [
15, S. 210].
Mit den Tafeln vom Berge Sinai bezeichnete Hitler den Dekalog. Wenn diese Quelle des Zitats von Historikern auch für fragwürdig gehalten wird, so gibt es doch Hitlers ideologische Überzeugung wieder, die von Nationalsozialisten wie etwa Hans Frank, dem nationalsozialistischen Generalgouverneur des unter Reichsverwaltung gestellten Teils Ostpolens und Galiziens („Generalgouvernement“), übernommen und in die ungeheuerliche Wirklichkeit der Ermordung von 3,5 Mio. Juden umgesetzt wurde. Der Völkerrechtler Philippe Sands zitiert in seinem Buch „Rückkehr nach Lemberg“ (2016/18; [
16]) Hans Frank:
„Der Nationalsozialismus hat das falsche Prinzip des Humanismus abgeschafft“ [
16, S. 295].
Das Zitat stammt aus einer Rede Franks auf dem 11. Internationalen Kongress für Strafrecht und Gefängniswesen 1935 in Berlin. Geoffrey Bing, ein englischer Anwalt war als Teilnehmer entsetzt „über den Anblick von ausländischen Beamten, Kriminologen und Reformern, die Franks >monströse Vorschläge< bejubelten“ [
16, S. 296]. 1941 äußerte Frank in Bezug auf die Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“:
„Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen und wo es irgend möglich ist“ [
16, S. 301].
Dieses Zitat stammt aus dem Diensttagebuch, in dessen 38 Bänden Frank seine Aktivitäten als Generalgouverneur detailliert aufzeichnen ließ; Sands fragte sich, ob Franks Sekretäre „sich jemals Gedanken darüber gemacht hatten, ob es klug sei, solche Äußerungen aufzuschreiben.“ Dies ist allerdings zu bezweifeln, da diese Vernichtungsideologie offenbar weite Kreise zog, wie die folgende Ausführung des „Reichsgesundheitsführers“ Leonardo Conti zeigt. Conti antwortete dem Göttinger Professor Gottfried Ewald, jenem Psychiatrieprofessor, der sich als einziger deutlich gegen die Tötung psychisch Kranker wandte. Conti schrieb:
„… ich bin fest überzeugt, daß die Anschauungen des ganzen deutschen Volkes in diesen Dingen in einer Wandlung begriffen sind, und kann mir sehr wohl vorstellen, daß Dinge, die in einer Zeitspanne als verwerflich gelten, in der nächsten als das einzig Richtige erklärt werden. Das haben wir im Laufe der Geschichte ja unzählige Male erlebt. Als letztes Beispiel kann ich ganz ruhig auf das Sterilisierungsgesetz verweisen; hier ist der Prozeß der Umformung des Denkens heute doch schon recht weit vorgeschritten“ [
17, S. 56].
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Contis Antwort belegt, wie überzeugte Nationalsozialisten an diesem grundlegenden Wandel moralischer Normen arbeiteten. Die Zitate verdeutlichen Hitlers biologistisch-totalitäre Ideologie als Ausdruck eines Zeitgeistes, den der Soziologe Lepenies als gegenaufklärerisch charakterisierte [
20, S. 69f.]. Eingebettet in jenen Zeitgeist verspottete Hitler den jüdisch-christlichen Humanismus als „Gefühlsduselei“ und setzte dessen Beseitigung mit emotionalisierten Massen um. Der rationale Gehalt dieses Humanismus wurde in der Formulierung der Straftatbestände „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“ im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess festgeschrieben [
16] und wird in den Menschenrechten zunehmend konkretisiert.
Fazit für die Praxis
Indem wir diesen Wandel des Zeitgeistes beobachten und erkennen, wie sehr wir „als Kinder unserer Zeit“ in ihn eingebettet sind, ist zu fragen, anhand welcher Kriterien wir erkennen können, dass der Zeitgeist uns in gefährliche Regionen zu verführen droht. Dabei erscheinen Ideologien oder Dogmen umso verführerischer, je mehr sie Elemente der Wirklichkeit enthalten. Dies sollten wir nicht erst erkennen, wenn uns die Menschenfeindlichkeit des Zeitgeistes berührt. Immerhin benennen die heute zahlreich entwickelten Ethikkodizes Kriterien, die zur Reflektion des eigenen Handelns und insbesondere dazu verpflichten, dessen Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen und dabei das Gebot der Menschlichkeit ernst zu nehmen.
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